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Selbstversuch mit Kunstobjekt

Freischuhe und Arbeitsschuhe
Irena Haiduks Schuhe und ich - 3.Folge
Heute habe ich einen freien Tag. Einen freien Tag haben heißt nicht, dass ich frei bin, sondern dass ich zuhause am Schreibtisch sitze. Obwohl mich niemand dazu zwingt, theoretisch könnte ich einen Tag auf der Bank an der Haltestelle sitzen, Tee trinken und zuschauen. Praktisch aber verfertige ich eine Liste mit Aufgaben, die ich erledigen will, soll, muss.
Die sieht eher harmlos aus heute. Erst mal Mails checken. Ist das jetzt eine private Mail oder eine Arbeitsmail? Ich beantworte sie gleich, dabei muss ich ständig die Schuhe wechseln. Privatschuhe, Arbeitsschuhe, Privatschuhe, Arbeitsschuhe. Ich muss was trinken, Arbeitsschuhe anlassen? Die Wachmaschine piepst, Privatschuhe anziehen. Ein Anruf kommt rein, Privatschuhe ausziehen, Arbeitsschuhe anziehen. Eigentlich wollte ich etwas schreiben, nach dem ersten Satz habe ich Hunger. Schuhe wieder wechseln, rasch was kochen, essen, weiter. Langsam werde ich ganz huchschig im Kopf. Ständig kommt mir etwas dazwischen, eine Abweichung nach der anderen. Irgendwann sitze ich barfuß auf dem Klo und lache nur noch. Eine Erkenntnis: Wenn die Arbeit im Privatraum stattfindet, ist sie von Freizeit kaum zu unterscheiden. Wobei diese Unterscheidung mir ohnehin nicht zusagt. Ich müsste die Arbeitsschuhe eigentlich immer tragen, putzen, Wäsche aufhängen, einkaufen, kochen, das ist Arbeit für mich. Im Internet Radio Devin hören ist auch Arbeit, ich lerne seit Jahren "gerade Slowakisch". Gibt es Freizeit überhaupt? "Die Zeit, während derer der Arbeiter arbeitet, ist die Zeit, während deren der Kapitalist die von ihm gekaufte Arbeitskraft konsumiert. Konsumiert der Arbeiter seine disponible Arbeitszeit für sich selbst, so bestiehlt er den Kapitalisten." (Karl Marx, Das Kapital) Wobei Marx ein Anhänger der Freizeit war, aber in einem anderen Sinn als heute: ein Fan der disposible time, also der frei verfügbaren Zeit. Er sah sie als Voraussetzung für die Emanzipation, für die Wiedergewinnung der Menschlichkeit aus der Entfremdung und für die freie Entfaltung des Individuums. In der beginnenden Industrialisierung haben die Menschen 16 Stunden am Tag gearbeitet, heute sind wir bei 7 oder 8 Stunden pro Tag angelangt, und von der Emanzipation, gar der Wiedergewinnung der Menschlichkeit ist immer noch als utopisches Ziel die Rede. Weil der Arbeiter jetzt mehr Zeit hat, verkauft der Kapitalist ihm dann die Produkte, die er unbedingt zur Freizeitgestaltung braucht, beispielsweise den buntgestreiften Fahrradfahrerganzkörperanzug samt eingebautem Knieschoner. Er stiehlt sich quasi das, was der Arbeiter nach Marx dem Kapitalisten gestohlen hat, wieder zurück und dazu stiehlt er ihm noch zusätzlich die disponible Zeit. Oder wie Adorno es auszudrücken pflegte: "Im spätindustriellen Zeitalter bleibt den Massen nichts als der Zwang, sich zu zerstreuen und zu erholen, als ein Teil der Notwendigkeit, die Arbeitskraft wiederherzustellen, die sie in dem entfremdeten Arbeitsprozeß verausgabten."
Sind wir nicht immer tätig, selbst im Schlaf? Ja, das sind wir. Im Schlaf befinden wir uns von Zeit zu Zeit in der Traumfabrik und leisten Traumarbeit. Zweite Erkenntnis: Wenn ich zu hause arbeite, vermischen sich Arbeit und Nicht-Arbeit, die auch Arbeit (kochen, Wäsche waschen, aufräumen, sauber machen etc.) ist, dauernd. Das muss sich ändern. Ab jetzt wird am Stück an einer Sache gearbeitet und dann am Stück an einer anderen. Handke schreibt morgens früh, habe ich gelesen. Gerade will ich ansetzen, weiter zu schreiben, da klingelt das Telefon. "Ja?" Freund Peter ist von der Reise zurück und möchte mit mir in der Sonne eine Runde gehen. Ich ziehe meine Arbeitsschuhe wieder aus und meine Turnschuhe an. Schließlich gelten auch für mich die allgemeinen Menschenrechte: „Jeder hat das Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmäßigen bezahlten Urlaub.“ (AEMR Art. 24)











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Kommentare

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klaus baum am :

ein text, in dem ich mich wiedererkennen kann. ich konnte jeweils zu hause gut schreiben, wenn ich fern von einer umtriebigen welt wohnte: auf dem land und am waldesrand.

Veronika am :

Ein sehr vielseitiger Artikel und genussvoll zu lesen!
Viele weitere Fragen tun sich auf.
Kann Arbeit auch Emanzipation sein?
Und: sind diese Schuhe eher eine Qual oder eine Unterstützung?

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